16. Januar 2022

2.2 Vergänglichkeit

Mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert zu werden, ist hart. Verstörend. Und es passt so gar nicht in ein scheinbar geordnetes Leben. Ich fühlte mich mit der CLL-Diagnose, als hinge auf einmal eine ominöse, dunkle Bedrohung über mir, die jederzeit zuschlagen und mir das Licht ausknipsen konnte. Ein Damoklesschwert.

Klar, ich hatte in meiner Krise und Verzweiflung keinen Sinn mehr in meinem Leben gesehen, wie es war. Aber mit dieser Diagnose war das drohende Ende auf einmal erschreckend real. Plötzlich war es weit mehr als nur ein depressives Szenario. Und das war mir auch nicht recht.

Außer den geschwollenen Lymphknoten am Hals zeigten sich weiterhin keine anderen Symptome oder Begleiterscheinungen. Das war einerseits natürlich gut. Andererseits machte es die CLL auch surreal. Wie konnte ich eine solche Krankheit in mir tragen und außer den dicken Dingern am Hals nichts davon bemerken? Und schon führte eins zum anderen: War es vielleicht doch eine Fehldiagnose? Was, wenn sich dieser Hämatologe jetzt auch in anderer Hinsicht irrte? Wenn diese CLL – falls ich sie tatsächlich haben sollte – doch nicht so gut zu behandeln war? Oder die Medikamente bei mir vielleicht nicht so wirkten, wie sie sollten? … Willkommen, Gedankenkarussell!

Aufgrund meines Binet-Stadiums A, dem ich zugeordnet worden war, sollte ich nach 6 Monaten zur Kontrolle kommen. 6 Monate mit so einer Diagnose herumlaufen und nichts tun können? Das machte mich schier verrückt. Das war mir zu lange. Ich ging deshalb bereits nach zwei Monaten zu meinem Hausarzt. Und tatsächlich: Die Leukozyten hatten zugenommen, andere Werte sich verschlechtert. Wenn auch nicht dramatisch. Trotzdem keine tollen Aussichten. Und ich kam mir vor wie ein Held auf seiner Reise, dem, den klaren Ausgang seines Abenteuers mit dem eigenen Ende vor Augen, trotzdem nichts anderes übrig bleibt, als Schild und Schwert zu nehmen und die dunklen Höhlen zu betreten …

Im November hatte ich dann den nächsten Untersuchungs- und Gesprächstermin in der hämatologischen Ambulanz des Klinikums in Heidelberg. Dieses Mal saß mir eine freundliche und zuhörende Ärztin gegenüber. Die nahm sich schon mal gefühlt mehr Zeit und beantwortete geduldig meine Fragen. Sie erklärte mir vor allem auch die Krankheit und ihre verschiedenen Behandlungsmethoden noch einmal genauer. Dabei wies sie auch darauf hin, welche immensen Fortschritte die Forschung in den vergangenen Jahren gerade bei der CLL-Behandlung gemacht hat: Anfangs war eine Knochenmarktransplantation die einzige Rettung. Aber längst waren Chemotherapie und Chemotherapie in Kombination mit Antikörpern (Immun-Chemotherapie) sowie neue Medikamente und zielgerichtete Therapien, die weitaus besser vertragen wurden als eine Chemotherapie, als weitere Behandlungsmöglichkeiten etabliert. Sie sagte, dass in meinem Fall vermutlich eine Therapie mit ibutrinip erfolgen würde. Ein Wirkstoff, der seit 2015/16 für die Erstlinientherapie der CLL zugelassen war.

Die Vorstellung, für den Rest meines Lebens Tabletten nehmen zu müssen, gefiel mir ganz und gar nicht. Ich bin eh kein Freund von Tabletten oder Medikamenten und gehöre ganz sicher nicht zu denjenigen, die beim ersten Halskratzen etwas einwerfen oder gleich Antibiotika o.Ä. nehmen. Aber die Hämatologen waren die Fachleute. Nicht ich mit meinem Halbwissen. Und in dem Moment beschloss ich, besser nichts mehr im Internet zu recherchieren.

Ich erfuhr bei diesem Termin auch, dass es gar nicht auf die konkrete Anzahl der Leukozyten allein ankommt, sondern auf die Dynamik, mit der sie sich vermehrten. Und natürlich noch um verschiedene weitere Werte, mit denen man die CLL und geeignete Behandlungsmöglichkeiten genauer bestimmen konnte. Das beruhigte mich ein wenig. Denn so blieb mir doch noch etwas Zeit. Auch wenn meine Leukos alles daran zu setzen schienen, sich fröhlich zu vermehren. Aber die Verdopplung innerhalb von 6 Monaten (einer der Indikatoren für den notwendigen Beginn einer Behandlung) schafften sie noch nicht.

So wurden in den folgenden Wochen die Laborwerte zum fixen Indikator, wann mich die Bedrohung überwältigen könnte. Ob es mir gut ging oder schlecht. Mir als Nicht-Mediziner erschlossen sich die verschiedenen Laborwerte und Richtgrößen im Blutbild nicht vollumfänglich. Also fokussierte ich mich hauptsächlich auf die Leukozyten und den HB-Wert: Wurde der erste Wert nicht zu hoch und der zweite nicht zu niedrig, war bzw. blieb alles erst einmal im Rahmen. Diese pragmatische Vereinfachung half dabei, mir nicht zu viele Gedanken zu machen.

Denn das von mir abverlangte Warten und Nichts-tun-Können fiel mir verdammt schwer. Einfach ‚normal‘ weiterleben und arbeiten, regelmäßig Blut untersuchen lassen und ansonsten nichts tun können… Gar nichts? – Das wollte mir schon seit dem ersten Termin nicht in den Kopf. Ich musste doch irgendetwas tun. Ich wollte irgendetwas tun!

Da ich selbst gerne koche, hatte ich mich schon während meiner Studienzeit mit dem Thema ‚gesunde Ernährung‘ und mit verschiedenen Ernährungstheorien und -ansätzen beschäftigt. Durch Bücher von Norman W. Walker, die ich kurz nach meiner Diagnose empfohlen bekommen hatte, kam ich nun auf die Idee, hier wieder anzusetzen. Warum setzte ich nicht einfach von der Ernährung her alles daran, dass der HB-Wert konstant blieb und die Anzahl der Leukozyten nicht durch die Decke ging?

Norman W. Walker war Mitbegründer der Natural-Hygiene-Bewegung in den Vereinigten Staaten, die Rohkost, Obst- und Gemüsesäfte als beste und gesündeste Ernährung für den Menschen ansehen. Auch an die Ansätze von Joe d’Adamo und seine »4 Blutgruppen – vier Strategien für ein gesundes Leben« erinnerte ich mich. Diese Theorie hatte schon früher Einfluss auf meinen Speiseplan gewonnen. Das alles zusammen führte schnell zu einem konkreten Plan: Versuche über die Ernährung alles Mögliche, um deinen Körper zu unterstützen und so zu stärken, damit noch lange keine Behandlung notwendig wird.

Leichter gedacht als getan. Ernährung hat Einfluss auf unseren Körper, das ist bekannt. Das Zitat »Du bist, was du isst« fasst das recht gut zusammen (es leitet sich wohl von der Aussage »der Mensch ist, was er isst« vom deutschen Philosophen Ludwig Feuerbach ab, der im 19. Jh. lebte und wirkte). Besonders die schädigende Wirkung bestimmter Ernährungsweisen ist ja vielfach untersucht und diskutiert. Aber: Konnte im Umkehrschluss die Ernährung dann tatsächlich auch besonders positive und ‚heilende‘ Wirkungen haben? Ein Thema, zu dem es ebenfalls zahllose Bücher und Abhandlungen gibt. Aber zumindest ein Bereich, wo ICH etwas tun konnte. Wo ich aktiv werden konnte – oder es zumindest versuchen. Nicht mehr nur warten. Und darum ging es mir.

Ob das gelang, und was ich während der weiteren „Watch & Wait“-Phase – auch außerhalb meiner Ernährung – alles tat, folgt im nächsten Beitrag.

Lesetipps:

Dr. Peter J. D’Adamo, Catherine Whitney: 4 Blutgruppen – vier Strategien für ein gesundes Leben. Piper Taschenbuch, 20. Aufl. 2009.
ISBN 978-3-3492-22811-4

Dr. Norman W. Walker: Frische Frucht- und Gemüsesäfte. Vitalstroffreiche Drinks für Fitness und Gesundheit. Goldmann Taschenbuch, 29. Aufl. 1995. ISBN 978-3-442-13694-0

Dr. Norman W. Walker: Täglich frische Salate erhalten Ihre Gesundheit. Goldmann Taschenbuch, 14. Aufl. 2016.
ISBN 978-3-442-17603-8

11. Dezember 2021

2.1 CLL – Das Ende?

„Wir brauchen den Lymphknoten nicht herausnehmen und untersuchen. Der Eingriff ist abgesagt. Sie haben chronische lymphatische Leukämie. Melden Sie sich demnächst bei den Kollegen in der Hämathologie. Die können Ihnen weiterhelfen.“ In ungefähr diesen Worten habe ich von meiner Diagnose erfahren. Am Telefon. Der Arzt von der HNO-Abteilung des Klinikums fasste sich geschäftig kurz und wünschte mir noch alles Gute, bevor er auflegte. Aufgabe erledigt.

Für mich jedoch brach eine Welt zusammen. Leukämie? Ich? Bis zu diesem Moment hatte ich gehofft, dass es nur irgendeine Infektion war, die ich mir in den Wintermonaten eingefangen hatte und die mir seit Wochen dicke Lymphknoten am Hals bescherte. Doch das?

Der Reihe nach: Ende 2018/Anfang 2019 hatte ich mich in eine Sackgasse manövriert. Sowohl bei der Arbeit als auch privat und vor allem mental: Durch eine Mischung aus übertriebenem Ehrgeiz, falschem Selbstverständnis, Überarbeitung, Beziehungsproblemen, dem Abhängig-Fühlen von den Meinungen anderer und einem vernachlässigten Ich, das so viele kreative Pläne hatte, aber im Alltag nicht dazu kam, sie umzusetzen, hatte ich einen Punkt erreicht, an dem ich einfach nicht mehr konnte. Und nicht mehr wollte. Wozu lebte ich überhaupt noch? Was sollte das Ganze? Wozu strampelte ich mich die ganze Zeit ab, wenn doch nichts dabei herauskam – nicht einmal etwas Anerkennung? Die Gedanken kreisten und kreisten. Und der Strudel zog mich immer weiter hinab.

Nachdem ich merkte, dass ich bei der Arbeit eigentlich nur noch da saß, mich nicht mehr konzentrieren konnte und bei den banalsten Widrigkeiten heimlich Tränen flossen, beschloss ich, mir Hilfe zu holen, und begann schließlich eine Therapie. Parallel dazu hatte ich verschiedene Termine beim Hausarzt, bei Fachärzten und in der HNO-Abteilung des hiesigen Klinikums. Denn seit Anfang des Jahres hatte ich geschwollene Lymphknoten am Hals. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie taten nicht weh, waren mir aber doch suspekt und gut sichtbar. Die Mandeln konnten es nicht sein, die waren mir schon vor Studienbeginn entfernt worden. Daher vermutete ich irgendeinen Infekt. Vielleicht ein Virus, das ich mir eingefangen hatte, und mit dem mein Körper zu kämpfen hatte. Eigentlich typisch für diese Jahreszeit.

Trotz verschiedener Untersuchungen blieb die genaue Ursache für die HNO-Ärzte jedoch im Dunkeln. Vermutungen gab es verschiedene, aber selbst eine Ultraschall-Untersuchung der Lymphknoten ergab kein konkretes Bild – außer, dass sie im Moment keine Gefahr darstellten. Immerhin. Aber sie wollten einen der Lymphknoten herausnehmen und genauer untersuchen. Ich bekam sogar recht kurzfristig einen Termin. Natürlich nicht ohne mir vorher sämtliche Gefahren und mögliche Folgen eines derartigen Eingriffs anhören zu dürfen.

Zwei Tage vor dem Eingriff kam dann der besagte Anruf (s.o.). Und da saß ich nun mit dieser Diagnose, bei der Arbeit, den Telefonhörer noch nicht aufgelegt und war erst einmal das heulende Elend. C… – was? Chronische lymphatische Leukämie? – Nie gehört. Aber „Leukämie“ hörte sich mies an. Ziemlich mies. Und nicht danach, dass ich mein Kind noch würde aufwachsen sehen. Zum Glück arbeitete ich zu jener Zeit mit einer Kollegin zusammen, mit der ich mich sehr gut verstand. Sie fing mich an diesem Tag auf und half mir, den ersten Schock zu überwinden.

In den nächsten Wochen sammelte ich Informationen über diese CLL. Ich hatte noch nie von dieser Krankheit gehört und musste feststellen, dass das Internet nur bedingt ein guter Ratgeber war. Es machte mich nur noch konfuser und panischer, was ich da las. Die CLL ist nicht heilbar. Und ich war viel zu jung dafür. Und je nach Seite und Forumsbeitrag waren die Informationen auch nicht immer aktuell. Wie sollte ich diese Flut an Infos richtig bewerten und filtern können? Mithilfe der Therapie, die mich ja eh begleitete, behielt ich wenigstens meinen Alltag im Griff, sodass ich nicht nur an die CLL und mein drohendes Ende dachte, sondern einigermaßen ‚normal‘ weiterarbeiten konnte.

Beim ersten Gesprächstermin in der Hämatologischen Ambulanz erfuhr ich dann, dass CLL die häufigste Leukämieform bei Erwachsenen in unseren westlichen Industrieländern ist (so fasst es auch die deutsche CLL Studiengruppe (https://www.dcllsg.de/) zusammen). Von einem der obersten Köpfe persönlich. Dank Zusatzversicherung, die ich in diesem Fall auch mal nutzen wollte. Gleichzeitig sei sie auch die besterforschteste und die am besten behandelbare Bluterkrankung. Es gebe inzwischen auch Alternativen zur Chemotherapie, zum Beispiel in Form von Tabletten, die ich täglich nehmen müsste. Mit diesen seien die Krankheit und ihre Symptome ganz gut in den Griff zu bekommen, erklärte er, nachdem er mich untersucht hatte. Da ich keine sonstigen Symptome aufwies, sollte ich mir also nicht zu viele Gedanken machen. Wir würden jetzt erst einmal abwarten und beobachten („Watch & Wait“). Ich sollte in ca. 3 Monaten wieder ein Blutbild machen lassen und in einem halben Jahr zur Kontrolle kommen. Dann würden sie entscheiden, wie es weitergeht und ob eine Therapie überhaupt schon notwendig wird. Noch Fragen?

Der überbordende Mangel an Emotionalität und Empathie bei dem Herrn mir gegenüber, auf dessen Audienz ich mehrere Stunden hatte warten müssen, ließ mich zukünftig den Zusatz „Chefarztbehandlung“ lieber unter den Tisch fallen. Er war bestimmt eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Und natürlich behielt er rückblickend recht und sein Team hat Tolles geleistet! Aber etwas mehr Eingehen auf mich und meine Situation hätte ich mir zu dem Zeitpunkt schon gewünscht. Schließlich hatte ich – im Gegensatz zu ihm – nicht tagtäglich mit diesem Thema und meiner Vergänglichkeit zu tun. Für mich war das alles fremd und ziemlich beängstigend. Zumal ich, statistisch gesehen, ca. 20 Jahre zu jung für diese Erkrankung war (das Alter bei Erstdiagnose liegt durchschnittlich bei ca. 70-75 Jahren). Und jetzt einfach so abwarten und nichts tun?
Aber genau das war der Plan.

… Fortsetzung folgt.

3. Dezember 2021

Ein Erfahrungsbericht in mehreren Teilen

Vorbemerkungen

Im Frühjahr 2019 wurde bei mir eine „Chronische lymphatische Leukämie“ (CLL) diagnostiziert. Das hat mir erst einmal den Boden unter den Füßen weggezogen. So, wie wohl den meisten, die plötzlich mit so einer Diagnose konfrontiert werden. „Leukämie“ klingt wie ein Todesurteil. Ein Urteil, das irgendjemand unvermittelt und unerwartet über mich gefällt hatte. Warum auch immer.

Zum Glück ist dem mittlerweile nicht mehr so: Die CLL ist keine aggressive Form der Leukämie und Dank des medizinischen Fortschritts recht gut behandelbar. Das sagten die Ärzte bereits bei den ersten Gesprächen – doch das einfach so zu glauben, fiel mir extrem schwer. Am Ende behielten sie dennoch recht: Seit Abschluss der knapp einjährigen Behandlungszeit (im Mai 2021) ist die CLL derzeit nicht mehr (akut) nachweisbar. Und es bleibt abzuwarten, wann und ob sie wieder in Erscheinung tritt.

Trotz dieses glücklichen Ausgangs waren die zwei Jahre seit der Erstdiagnose extrem anstrengend, zäh, ermüdend. Sie waren von zahlreichen seelischen Hochs und Tiefs begleitet – und lebensverändernd. Ich musste lernen, mit dieser Krankheit zu leben, die Behandlung irgendwie meistern. Zusätzlich zu Arbeit und Familie. Ich musste die CLL akzeptieren und damit klarkommen, obwohl es nicht auf alle Fragen eine klare Antwort geben konnte und gibt.

In den folgenden Blogartikeln skizziere ich, wie die verschiedenen Phasen der Diagnose und Behandlung bei mir verliefen, was ich selbst beigetragen habe und was mir in dieser Zeit geholfen hat. Mir hätte es seinerzeit gutgetan zu wissen, was auf mich zukommt – v.a. abseits von den ausführlichen Angaben darüber, was bei der Behandlung alles schiefgehen kann.

Von daher bin ich dankbar, durch meine Erfahrungen und Tipps anderen Betroffenen vielleicht helfen zu können. Ich möchte ihnen Mut machen und aufzeigen, dass es zwar zermürbend, aber schaffbar ist. Und dass sich das ständige ‚Durchhalten‘ lohnt.

Hinweis: Ich bin weder Mediziner noch Arzt. Meine Tipps und Vorschläge beruhen allein auf meinen persönlichen Erfahrungen und Versuchen. Ich übernehme daher keine Haftung oder kann gewährleisten, dass sie allgemeingültig funktionieren.

>> Weiterlesen bei »3 Buchstaben – eine Diagnose«

31. März 2019

Nachdem ich entschieden hatte, zum Entstehen meines mittelalterlichen »Lesungsbuches« (siehe hierzu meinen ausführlichen Blogbeitrag) auch eine kleine filmische Dokumentation zu machen (auf YouTube ansehen), stand für mich schnell fest: ich schreibe auch die Filmmusik dazu. Immerhin begleitet mich sinfonische Filmmusik seit meinem 12. Lebensjahr, hat mich bei meinen Kompositionen beeinflusst und war auch immer wieder Thema im Studium.

Hier nun eine kurze Zusammenfassung, wie ich die knapp vierminütige Musik zu meinem Film erarbeitet habe:

Grundgedanken

Im Mittelpunkt des Films steht ein großformatiges, in Leder gebundenes und mit Messingbeschlägen verziertes Buch. Gemäß diesem mittelalterlichen Sujet sollte nicht nur die Optik im Film stimmen (v.a. durch die verwendete Schriftart), sondern auch die Musik entsprechend klingen: alte Instrumente, viel Trommeln, einfache Melodien und Tanzrhythmen und eine Steigerung bis hin zum fulminanten Höhepunkt bzw. Schlussakkord.

Instrumentierung

Ich wählte daher eine Kombination aus Viola da Gamba, Bodhrán (traditionelle keltisch/irische Rahmentrommel) und verschiedenen Holzblasinstrumenten. Für den gewollt geheimnisvoll-düsteren Klang nahm ich Cello und Kontrabass in Kombination mit Pauken hinzu. Diese setze ich v.a. in der Exposition ein, während der Film erläuternde Texte ein- und wieder ausblendet.

Aufbau

Das Stück ist im 3/4-Takt angelegt. Es beginnt mit der besagten, langsamen Anfangssequenz (1. Thema) und leicht düsterer Cello-/Kontrabass-Melodik, die von Paukensoli unterbrochen wird. Das zweite Thema (Hauptthema) wird von der Viola da Gamba eingeführt, während sich das erste, leicht modifiziert, als Begleitung fortsetzt.

Im Film werden nach und nach die einzelnen Phasen und Schritte gezeigt, wie das Lesungsbuch entstanden ist. Dies spiegelt sich auch in der Musik wider: es kommen zunächst weitere Instrumente wie z.B. Oboe und Flöten hinzu, die das Thema fortführen und auch die Begleitung ausbauen, bis das Tempo anzieht.

Als Überleitung zu dem rascheren zweiten Teil der Musik und dem Film, in dem das Buch sein endgültiges Aussehen erhält (Entstehung der Messingbeschläge, Elektronik und Zusammensetzen) wechselt die Instrumentierung. Violinen kommen hinzu, während durch Rückung und Wiederholungen einzelner Phrasen die Musik dem zweiten Teil entgegen strebt. Dort wird das Hauptthema wieder aufgegriffen, diesmal aber mit umfangreicherer Orchestrierung und der markanten Bodhrán als trommelndes Tanzelement.

Die Schlussequenz hatte ich gedanklich als erstes ausgearbeitet: Während sich im Film die Kamera dem fertigen Buch und v.a. dem vorne eingelassenen Kristall nähert, sollte die Musik rasch anschwellen, durch Glissandi den optischen ‘Zoom’ hörbar machen und mit einem Schlussakkord enden, während zeitgleich der Stein rot aufleuchtet. Neben Gong, Kontrafagott und kurzem Paukenwirbel nutze ich für den speziellen Schlussklang v.a. die Bassposaune und lasse alles über sechs Takte ausklingen.

Klänge

Für diese kurze Filmmusik habe ich die Musiknotations-Software Finale (in der Version 25.2) verwendet. Sie bietet mir mit den enthaltenen Garritan Sounds (Originalaufnahmen der verschiedenen Instrumente) tolle Möglichkeiten, auch nahezu ‘echt’ klingende Musik am Computer zu orchestrieren und zu exportieren. So konnte ich recht leicht ausprobieren und verschiedene Klangkombinationen testen.

Zwei weitere Features von Finale habe ich dabei genutzt:

1. habe ich die “Basis Anschlagsstärke” (über die Wiedergabe-Einstellungen konfigurierbar) auf den Wert “71” hochgesetzt. Damit erziele ich eine eher ‘ruppigere’ Spielweise und rauere Klänge – insbesondere beim Cello und der Viola da Gamba.

2. kann ich über die Einstellungen des enthaltenen “ARIA-Players” bei den Klängen auch verschiedene Szenarien bzw. Örtlichkeiten vorauswählen, wo die Musik gespielt werden soll. Hier stehen neben kleineren Räumen für Kammermusik auch größere ‘Räume’ und Hallen zur Verfügung, z.B. Kirche und Kathedrale. Zuerst plante ich eine Kirche oder Kathedrale als ‘Aufnahmeort’, verwarf das aber wieder. In beiden klang die Musik zwar bombastisch und markant, wie ich es mir vorgestellt hatte, überlagerte sich aber auch. Und vor allem bei den schnelleren Sequenzen ging das alles in einen ‘Klangbrei’ über. Letzen Endes entschied ich mich dann für den “Film Score Space“, was für mich ja irgendwie naheliegend war.

Ergebnis

Insgesamt hat mich die Musik ca. 50 Stunden Arbeit gekostet. Es war nicht immer einfach, aber es machte mir auch großen Spaß, auf einer Idee aufbauend eine Einheit aus Inhalten, bewegten Bildern, Überblendungen und Musik zu schaffen. Und mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden. Die Musik hat sogar einen gewissen ‘Ohrwurm-Faktor’.  😉

Die fertige Filmmusik zum Film über “Mein Lesungsbuch” habe ich auf SoundCloud veröffentlicht. Ihr könnt die Musik aber auch in meiner Rubrik Kompositionen anhören.

Gefällt euch die Musik?
Dann freue ich mich auf euer Feedback oder auf Klicks und Likes bei SoundCloud, YouTube, facebook oder instagram.

Rüdiger

17. März 2019

Als Ergänzung zu meinen Autorenlesungen stelle ich hier die Entstehung meines ‘Lesungsbuchs‘ vor – ein mittelalterliches Buch, bei dem ich die Textseiten auswechseln kann.

Ausgangslage

Den Impuls dazu gab Cally Stronk auf der VIP Autorenkonferenz in Frankfurt (s. hierzu meinen Blogbeitrag), als sie deutlich machte, wie wichtig es v.a. beim Autorenmarketing sei, ein Alleinstellungsmerkmal herauszuarbeiten, das außergewöhnlich sei, eine Geschichte habe und gut in Erinnerung bleibe.

Aus verschiedenen Gründen kam ich bei der Vorbereitung meiner Lesungen vor Weihnachten auf die Idee mit dem Buch – nicht zuletzt wegen meines Faibles für Fantasy und meinem Ziel, v.a. junge Leser und Zuhörer dafür zu begeistern, was so alles zwischen zwei Buchdeckeln stecken kann. Es sollte ein großes Buch werden, ein klassisches ‘Märchenbuch’, passend für verschiedene Kinderbücher und Fantasy-Romane, in Leder gebunden, mit Beschlägen – und einem leuchtenden Stein.

Doch so schnell sich die Idee auch geformt hatte: die Realisierung wurde im Detail kniffliger als geahnt. Dabei musste ich nicht nur die richtigen Materialien finden, sondern kam auch handwerklich an meine Grenzen.

Filmdoku

Wer es in Kurzform wissen möchte: Hier gibt es eine filmische Dokumentation »Mein Lesungsbuch«.

Entstehung

Nachfolgend nun eine Zusammenfassung der verschiedenen Komponenten und ihrer Entstehung.

Grundgerüst und Buchrücken: Die größte Herausforderung war, nicht nur einfach ein Buch mit großen Seiten zu binden, sondern ich wollte ja etwas, bei dem ich die Textseiten austauschen konnte. Einen ‘klassischen’ Ordner für Viererlochung hätte es sicher gegeben. Aber der wäre im A4-Format zu klein gewesen und hätte zu wenig nach richtigem Buch ausgesehen.
Bei Recherchen stieß ich auf Buchschrauben, die es in unterschiedlichen Längen gibt. Und damit ergab sich die Lösung: Zwei schmale zweireihige Lochbleche verband ich durch vier lange Buchschrauben im passenden Abstand. An der unteren Lochreihe schraubte ich dann jeweils Leistenscharniere (Klavierscharnier) an, die ich auf die richtige Länge kürzte. Dazwischen kamen die Längsseiten eines maschigen Alublechs, mit dem ich vorher den Buchrücken formte und oben und unten durch Umknicken verstärkte. Zwei weitere, ca. 1,5 cm breite Alublechstreifen befestigte ich mit Draht auf dem Buchrücken, um die dicke Buchbindung nachzuempfinden, die mittelalterliche Bücher so markant machen.

Buchdeckel: Für die Buchdeckel habe ich mir im Baumarkt aus leichtem, aber nicht zu dünnem Holz ein Brett ausgesucht und zwei Stücke im A3-Format zuschneiden lassen. Diese erhielten, passend zu den Scharnieren, kleine Bohrlöcher und jedes Loch eine zusätzliche Vertiefung, damit die Muttern möglichst im Holz versenkt werden können.
Vorne auf das Buch plante ich eine Fassung mit einem großen Kristall, der von innen beleuchtet werden kann. Im Vorderdeckel bohrte hierfür ich ein größeres Loch an passender Stelle. Zudem schabte ich eine Vertiefung zwischen diesem Loch und der Innenkante ein, um hier die Kabel einlegen zu können. Mittels kleiner Schrauben und Muttern befestigte ich schließlich die Holzdeckel dann am Grundgerüst.

Ledereinband: In heutiger Zeit sind Geschäfte, wo es einzelne kleinere und größere Lederstücke und Lederbänder zu finden gibt, rar geworden. Online bestellen wollte ich nicht, da ich mir das Leder ansehen, es anfühlen wollte um entscheiden zu können, ob es zu meiner Idee passt oder nicht. Zum Glück habe ich dann ein Geschäft in Heidelberg gefunden, das auch Angebote für Mittelalter und LARP-Fans hat. Dorthin habe ich meine Buch-Konstruktion mitgenommen, wurde toll beraten und bekam schließlich ein weiches Leder zugeschnitten, das meinen Vorstellungen entsprach und das ich problemlos mit Buchbinderleim aufziehen konnte. Das Drahtgeflecht am Buchrücken habe ich dafür zunächst mit Stoff bezogen und an der Innenseite mit Papier verkleidet, damit man das Metall nicht mehr sieht und das Leder besser hält. Interessanter Nebeneffekt: Sowohl die kleinen Muttern als auch die Verstärkungen am Buchrücken zeichnen sich durchs Leder ab und lassen das Buch auf den ersten Blick noch authentischer wirken.

Messingbeschläge: Bei einer Online-Recherche war ich schnell auf einen Buchbinder gekommen, der auch mittelalterliche Buchbeschläge anbietet. Die sehen toll aus und entsprachen genau dem, was ich mir vorgestellt hatte. Doch da das alles Einzelanfertigungen sind und ich für ein vollständiges Buch mehrere Plättchen und Buchecken brauche, überstieg diese Variante deutlich mein geplantes Budget. Also blieb mir nur die andere Variante: ab in den Baumarkt, Messingblech besorgen und Beschläge selber machen. Das war allerdings leichter gedacht und gezeichnet als umgesetzt – in den ersten Tagen produzierte ich auch prompt Ausschuss, bis ich den Dreh endlich ‘raus hatte, wie ich mit den mir zur Verfügung stehenden Werkzeugen die Ornamente gleichmäßig hinbekomme, ohne die Ecken und Bleche zu perforieren. Und nach einiger Übung hat es glücklicherweise dann auch geklappt.

Kristall: Von Anfang an war klar, dass vorne auf das Buch eine Blende mit einem Stein kommen sollte. Dabei war es gar nicht so einfach, ein Kristall-Imitat in der richtigen Größe zu finden. Und sollte ich gleich einen farbigen nehmen? In Rot oder Grün? Beide Farben hätten zu dem Buch gepasst. Da ich aber mein Lesungsbuch für unterschiedliche Texte nehmen möchte und es nicht passen würde, wenn es in einem Fantasyroman um einen grün schimmernden Stein geht, ich dann einen roten vorne drauf habe, ging das so nicht. Letzten Endes entschied ich mich für einen klaren Stein, den ich von unten/innen unterschiedlich beleuchten wollte. Das würde zwar keine so schönen Farben ergeben, machte das Lesungsbuch aber flexibler.
Um den Stein in das Ornamentblech einsetzen zu können, musste ich ihn unten flach absägen, da ich die Spitze, die diese Acrylglas-Kristalle haben, nicht gebrauchen konnte.

Geheimfach: Das Buch war zunächst in einer Dicke von vielleicht vier Zentimetern gedacht gewesen, sodass ich ausreichend Seiten einlegen konnte. Durch die Grundkonstruktion war ich aber einerseits von den verfügbaren Buchschrauben abhängig, andererseits sah es bei genauerem Überlegen etwas ‘mickrig’ aus: ein A3-formatiges Buch und dann nur so dünn? Das gefiel mir allein von der Vorstellung her schon nicht. Schließlich sollte das Buch wirken und etwas hermachen. Also bestellte ich die langen Buchschrauben – bekam dadurch aber das Problem, den ‘Innenraum’ auffüllen zu müssen. Mit Papier. Hunderte Seite. Im Großformat. Das bedeutete ein Papiergewicht, das nicht mehr tragbar war (im wahrsten Sinne des Wortes).
Glücklicherweise hatte ein Freund und Arbeitskollege von mir die rettende Idee: Ein Geheimfach. Das füllt das Buch innen auf und gibt mir gleichzeitig die Gelegenheit, Sachen zu ‘verstecken’, die ich während der Lesung eh verwende: eine kleine Eule, Karten mit Szenenbilder im A4-Format usw. Zudem ist es ein idealer Ort, um die Elektronik für den Kristall unterzubringen.

Elektronik: Eine ganz unerwartete Herausforderung stellte die Beleuchtung des Steins dar. Zunächst wollte ich den einfach nur leuchten lassen können. Dann kam mir aber die Idee, dass es wohl praktisch wäre, ihn – je nach späterem Text und passend zur Geschichte – unterschiedlich leuchten lassen zu können. Wenn ich schon eine Beleuchtung einbaute und den Aufwand betrieb, dann wollte ich auch flexibel bleiben.
Ich entschied mich für die Farben Rot, Grün, Blau und Weiß. Dazu suchte ich mir passende Leuchtdioden/LEDs raus, die allerdings ziemlich klein sein mussten, damit die auf engstem Raum unter den Stein passten. Da meine Schulzeit auf dem Technischen Gymnasium viele Jahre her ist, brauchte ich zunächst einige Recherchen, um die Schaltung planen zu können. Dann musste ich auch ein paar mal in den Elektronikfachhandel, bis ich alles zusammen hatte. Das Ergebnis: Ausgehend von einer 9V-Batterie kann ich mithilfe eines kleinen Umschalters und einem größeren Ein-/Aus-Schalter die jeweils gewünschte LED leuchten lassen. Die notwendigen Widerstände und Schalter lötete ich auf eine kleine Platine, die ich im vorgesehenen Fach versteckte. Der Kippschalter kam so ins Geheimfach, dass ich ihn von außen betätigen kann. Um das Geheimfach tatsächlich herausnehmen zu können, habe ich einen mehrpoligen Steckverbinder integriert. Nach einiger Fummelei saß endlich alles an seinem Platz. – Doch der erste Test mit dem Kristall war vernichtend: zwar konnte ich das Licht an- und ausschalten und getrennt davon die Farbe wählen, doch der Stein war viel zu grell. Ich hatte zu helle LED gewählt, was durch den Schliff des Kristalls partiell noch verstärkt wurde. Ich konnte locker das Zimmer damit einfärben …
Nach zwei Tagen Zwangspause und Nachdenken darüber, ob ich noch einmal von vorne beginnen sollte und das halbe Buch wieder auseinandernehmen musste, kam mir die Idee: Ich baute zwischen LEDs und Kristall einfach einen mattweißen Kunststoff ein, der das Licht dämmte und zusätzlich dem Kristall Halt gab.

Inhaltsseiten: Als das Buchgerüst komplett fertig war, ging es abschließend noch an die Inhaltsseiten. Diese ließ ich auf A3-Format vergrößert ausdrucken. Um die Lochung hinzubekommen, platzierte ich vorher im abgemessenen Abstand vier Lochmarken auf den Seiten. Dummerweise gab es eine Abweichung zwischen Layout, Vergrößerung und Ausdruck (passte die Ränder an), was dazu führte, dass bei der Hälfte der Seiten die Lochung nicht ganz stimmte.
Schließlich hatte ich aber für meine Lesungen die beiden Buchtexte vom »Märchen vom kleinen Weihnachtsbaum« und »Der kleine Tannenbaum und der Schneemann« fertig gelocht und zugeschnitten vor mir liegen. Der abschließende Schritt war dann nur noch: Buchschrauben aufdrehen, stapelweise die Seiten einsetzen, Buchschrauben wieder zudrehen … und einsatzfertig war mein Lesungsbuch.

Abschließende Bemerkung: Das Projekt hat in über zwei Monaten insgesamt ca. 80 Stunden verschlungen und bedeutete so manche lange Abende in der Werkstatt, da alles ‘nebenher’ laufen musste. Das Ergebnis allerdings zeigt mir: die Arbeit hat sich gelohnt. Das Buch ist ein Hingucker.

Jetzt muss es sich nur noch bewähren … 😉