CLL: 3 Buchstaben, eine Behandlung – Teil III/III

3.3 Tabletten (Venetoclax)

Der Behandlungsplan gemäß der CLL-14-Studie sieht vor, dass ab Ende des 2. Zyklus‘ eine Therapie mit Venetoclax hinzukommt. Das Präparat wird zunächst mit einer niedrigen Dosierung genommen (20mg/Tag in der ersten Woche). Dann erfolgt pro Woche eine Steigerung auf 50mg, 100mg, 200mg bis hin zur vollen Dosierung mit 400mg pro Tag in der letzten Woche des ersten Behandlungszyklus’ (Tag 22-28). Ab dem 3. Zyklus der Behandlung bis zum Ende bleibt es bei dieser Dosierung – sofern alles gut geht.

Vorsorglich hatte ich bereits zu Beginn meiner Behandlung Allopurinol verschrieben bekommen. Damit wurde einem zu hohen Harnsäurespiegel entgegengewirkt, der als Folge der Behandlung auftreten konnte. Mit Venetoclax hieß es jetzt, noch mehr Tabletten zu nehmen. Und zwar vier dicke Tabletten à 100mg Wirkstoff. Pro Tag.

Im Vorbereitungsgespräch bat mich die Ärztin, die Tabletten abends zu nehmen. Gegen 22:30 Uhr und mit einer kleinen Mahlzeit. Da die volle Wirkung der Tabletten sich nach ca. 7-8 Stunden entfaltet, sei das besser für die Kontrolluntersuchungen am nächsten Morgen. Dadurch ließe sich direkter sehen, ob die Therapie wirke und wie mein Körper darauf reagiert. Das klang für nach einem pragmatischen Ansatz, auch wenn es bedeutete, dass ich meine bisherigen Essgewohnheiten erst einmal vergessen konnte: Ein spätes Essen passte so gar nicht in den bisherigen Tages- und Essensrhythmus. Zumal ich auf ein gemeinsames Essen mit Familie am früheren Abend auch nicht verzichten wollte, um meinem jungen Sohn ein geregeltes und gemeinsames Abendessen zu bieten.

Also, was tun? In der ersten Zeit habe ich es mit ‚kleinen‘ Mahlzeiten für die Tabletten versucht. Belegte Knäckebrote zum Beispiel. Aber das hatte ich schnell über. Nicht nur vom Geschmack her, sondern mir wurde nach dem Essen auch regelmäßig kalt. Getoastete Brotscheiben mit verschiedenem Belägen waren da schon etwas besser. Aber schließlich ging ich doch zu warmen Gerichten über – meist Gemüse- und Reisgerichte. Dafür reduzierte ich die Portion, die ich beim regulären Abendessen zu mir nahm, und wechselte zu Salaten o.Ä. Insgesamt klappte das ganz gut. Da ich eh nicht frühstückte und weiterhin den »Leberentlastungsvormittag« praktizierte (s. Beitrag »2.3 Aktionismus«), kam ich damit gut zu recht.

Während ich die Tabletten gut vertrug und mich mit dem späten Essen irgendwann arrangiert hatte, wurden die vielen Kontrolltermine in der Klinik anstrengend. In der Hochphase und direkt nach der Aufdosierung bekam ich bis zu vier Mal in der Woche Blut abgenommen, musste ich zu notwendigen Untersuchungen und Arztgesprächen, weil manche Werte zu niedrig, andere wiederum zu hoch waren und meine Ärztin sichergehen wollte, dass nicht irgendwelche Organe Schaden nahmen. Jeder Termin bedeutete viel Warterei. Entweder beim zentralen Blutlabor. Oder auf die Ergebnisse. Oder bis zum Arztgespräch. Oder alles zusammen. Zum Glück hatte ich keine weite Anfahrt, und es bedeutete nicht jedes Mal eine halbe Weltreise, um in die Klinik zu kommen.

Ätzend wurde es ab dem Zeitpunkt, als ich beim vorletzten Infusionstermin leider an eine andere Fachkraft als sonst geriet. Und diese schaffte es nicht, mir den Zugang für die Infusion zu legen. Nach zwei schmerzhaften Fehlversuchen holte sie die Kollegin, die das sonst immer übernommen hatte – und es auch dieses Mal wieder problemlos schaffte. Doch der Schmerz hatte sich schon ins Körpergedächtnis ‚gestochen‘. Ab diesem Zeitpunkt, und jedes Mal, wenn ich Blut abgenommen bekommen sollte, erahnte ich den stechenden Schmerz schon vorher, krampfte sich alles in mir zusammen. Das legte sich erst wieder mit dem Ende meiner Behandlungszeit und durch größere Pausen zwischen den Kontrollterminen.

Die Behandlung gemäß der CLL-14-Studie verfolgt zwei Ansätze: 1. die nicht funktionsfähigen B-Lymphozyten aus dem Körper zu bekommen, die sich selbst nicht mehr ‚abschalten‘ können, und 2. die Bildung neuer B-Lymphozyten zu erreichen, bei denen der ‚Abschaltmechanismus‘ korrigiert wurde. Für das Ausmisten ist die Infusion zuständig, die notwendige ‚Neuprogrammierung‘ übernimmt der Tablettenwirkstoff. So hatte ich die komplizierten medizinischen Ansätze für mich vereinfacht.

Auch wenn die Blutbildung bei mir nicht sofort wieder richtig in Schwung kam und ich anfangs auf die erste Infusion heftig reagiert hatte – insgesamt habe ich die Behandlung sehr gut vertragen. Ob das an meinem vergleichsweise jungen Alter für die Ersterkrankung, an meiner angepassten Ernährungsweise oder meiner persönlichen Konstitution lag, kann ich nicht sagen. Aber ich bin froh, die typischen Fragen bei den Untersuchungsterminen nach Übelkeit, Erbrechen, Unwohlsein, Fieber, Nachtschweiß usw. jedes Mal verneint haben zu können. Und das Wichtigste: Die Behandlung hat angeschlagen. Und damit zusammenhängend haben sich auch die Lymphknoten recht schnell auf ihr normales Maß zurückgebildet.

Dafür bin ich unendlich dankbar. Dankbar gegenüber der medizinischen Forschung, dankbar gegenüber den Ärzten, die für mich die richtige Behandlungsform gewählt haben, und dankbar dafür, dass sich außer Erschöpfung und Müdigkeit keine größeren Nebenwirkungen gezeigt haben. Denn so konnte ich trotz allem recht schnell wieder ein geregeltes Leben leben und blieb der Arbeitswelt erhalten.

Zum Ende der knapp einjährigen Behandlung stand noch eine genauere Untersuchung an: Zusätzlich zu einer umfangreichen Blutkontrolle erfolgte eine Knochenmarksuntersuchung. Damit sollte bestimmt werden, inwieweit die CLL noch nachweisbar war. Das Knochenmark entnahmen sie mir aus dem Beckenkamm. Und ich muss sagen: Obwohl die Ärztin dabei sehr bedacht und vorsichtig vorging, war diese Untersuchung das mit Abstand Unangenehmste meiner gesamten Behandlungszeit. Eine Betäubung war nur oberflächlich möglich, der Knochen musste durchbohrt werden, und die eigentliche Entnahme fühlte sich an, als ob jemand gleichzeitig von innen am Gehirn und an den Zehen zöge und mich aussagen wollte. Furchtbar. Und es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, bis die Stelle am Becken nicht mehr schmerzte. Aber, die Untersuchung brachte die gewünschte Gewissheit und lohnte sich daher auf jeden Fall: die CLL war und ist nicht mehr nachweisbar. Jetzt bleibt schlichtweg abzuwarten, ob und wann sie wieder auftritt.

Allerdings gibt es noch eine andere Seite: Während die Behandlung medizinisch ein Erfolg war, ich die Therapie gut vertragen und längst ins Arbeitsleben zurückgefunden habe – auf das, was so eine Diagnose und Behandlungsphase in mir auslösen würden, war ich nicht vorbereitet. Das habe ich ja schon in meinen früheren Beiträgen angedeutet (siehe dort). Auf so etwas ist man, glaube ich, nie wirklich vorbereitet. Und jeder muss für sich lernen, damit umzugehen.

Rückblickend, und durch die Corona-Pandemie verstärkt, fühlt sich die Zeit von der ersten Diagnose bis zum Ende der Behandlung im vergangenen Jahr noch immer surreal an. Fremd. Wie etwas, das nicht richtig zu mir und meinem bisherigen Leben gehört – weil es dieses Leben auch ziemlich durcheinandergewürfelt hat. Die CLL hat sowohl mein Leben als auch mich selbst, meine Sicht auf die Welt, mein Umfeld verändert. Und dieser Veränderungsprozess ist nach wie vor im Gange.

Aber: Die Behandlung hat angeschlagen, und seit nunmehr fast einem Jahr sind alle Werte in Ordnung. Die Therapie und v.a. das Durchhalten haben sich auf jeden Fall gelohnt. Trotz aller Hürden, anstrengender Phasen und durchlebter Tiefen. Denn was ist – im Vergleich zur neu gewonnenen Lebenszeit – schon ein Jahr?