27/03/22

CLL: 3 Buchstaben, eine Behandlung – Teil III/III

3.3 Tabletten (Venetoclax)

Der Behandlungsplan gemäß der CLL-14-Studie sieht vor, dass ab Ende des 2. Zyklus‘ eine Therapie mit Venetoclax hinzukommt. Das Präparat wird zunächst mit einer niedrigen Dosierung genommen (20mg/Tag in der ersten Woche). Dann erfolgt pro Woche eine Steigerung auf 50mg, 100mg, 200mg bis hin zur vollen Dosierung mit 400mg pro Tag in der letzten Woche des ersten Behandlungszyklus’ (Tag 22-28). Ab dem 3. Zyklus der Behandlung bis zum Ende bleibt es bei dieser Dosierung – sofern alles gut geht.

Vorsorglich hatte ich bereits zu Beginn meiner Behandlung Allopurinol verschrieben bekommen. Damit wurde einem zu hohen Harnsäurespiegel entgegengewirkt, der als Folge der Behandlung auftreten konnte. Mit Venetoclax hieß es jetzt, noch mehr Tabletten zu nehmen. Und zwar vier dicke Tabletten à 100mg Wirkstoff. Pro Tag.

Im Vorbereitungsgespräch bat mich die Ärztin, die Tabletten abends zu nehmen. Gegen 22:30 Uhr und mit einer kleinen Mahlzeit. Da die volle Wirkung der Tabletten sich nach ca. 7-8 Stunden entfaltet, sei das besser für die Kontrolluntersuchungen am nächsten Morgen. Dadurch ließe sich direkter sehen, ob die Therapie wirke und wie mein Körper darauf reagiert. Das klang für nach einem pragmatischen Ansatz, auch wenn es bedeutete, dass ich meine bisherigen Essgewohnheiten erst einmal vergessen konnte: Ein spätes Essen passte so gar nicht in den bisherigen Tages- und Essensrhythmus. Zumal ich auf ein gemeinsames Essen mit Familie am früheren Abend auch nicht verzichten wollte, um meinem jungen Sohn ein geregeltes und gemeinsames Abendessen zu bieten.

Also, was tun? In der ersten Zeit habe ich es mit ‚kleinen‘ Mahlzeiten für die Tabletten versucht. Belegte Knäckebrote zum Beispiel. Aber das hatte ich schnell über. Nicht nur vom Geschmack her, sondern mir wurde nach dem Essen auch regelmäßig kalt. Getoastete Brotscheiben mit verschiedenem Belägen waren da schon etwas besser. Aber schließlich ging ich doch zu warmen Gerichten über – meist Gemüse- und Reisgerichte. Dafür reduzierte ich die Portion, die ich beim regulären Abendessen zu mir nahm, und wechselte zu Salaten o.Ä. Insgesamt klappte das ganz gut. Da ich eh nicht frühstückte und weiterhin den »Leberentlastungsvormittag« praktizierte (s. Beitrag »2.3 Aktionismus«), kam ich damit gut zu recht.

Während ich die Tabletten gut vertrug und mich mit dem späten Essen irgendwann arrangiert hatte, wurden die vielen Kontrolltermine in der Klinik anstrengend. In der Hochphase und direkt nach der Aufdosierung bekam ich bis zu vier Mal in der Woche Blut abgenommen, musste ich zu notwendigen Untersuchungen und Arztgesprächen, weil manche Werte zu niedrig, andere wiederum zu hoch waren und meine Ärztin sichergehen wollte, dass nicht irgendwelche Organe Schaden nahmen. Jeder Termin bedeutete viel Warterei. Entweder beim zentralen Blutlabor. Oder auf die Ergebnisse. Oder bis zum Arztgespräch. Oder alles zusammen. Zum Glück hatte ich keine weite Anfahrt, und es bedeutete nicht jedes Mal eine halbe Weltreise, um in die Klinik zu kommen.

Ätzend wurde es ab dem Zeitpunkt, als ich beim vorletzten Infusionstermin leider an eine andere Fachkraft als sonst geriet. Und diese schaffte es nicht, mir den Zugang für die Infusion zu legen. Nach zwei schmerzhaften Fehlversuchen holte sie die Kollegin, die das sonst immer übernommen hatte – und es auch dieses Mal wieder problemlos schaffte. Doch der Schmerz hatte sich schon ins Körpergedächtnis ‚gestochen‘. Ab diesem Zeitpunkt, und jedes Mal, wenn ich Blut abgenommen bekommen sollte, erahnte ich den stechenden Schmerz schon vorher, krampfte sich alles in mir zusammen. Das legte sich erst wieder mit dem Ende meiner Behandlungszeit und durch größere Pausen zwischen den Kontrollterminen.

Die Behandlung gemäß der CLL-14-Studie verfolgt zwei Ansätze: 1. die nicht funktionsfähigen B-Lymphozyten aus dem Körper zu bekommen, die sich selbst nicht mehr ‚abschalten‘ können, und 2. die Bildung neuer B-Lymphozyten zu erreichen, bei denen der ‚Abschaltmechanismus‘ korrigiert wurde. Für das Ausmisten ist die Infusion zuständig, die notwendige ‚Neuprogrammierung‘ übernimmt der Tablettenwirkstoff. So hatte ich die komplizierten medizinischen Ansätze für mich vereinfacht.

Auch wenn die Blutbildung bei mir nicht sofort wieder richtig in Schwung kam und ich anfangs auf die erste Infusion heftig reagiert hatte – insgesamt habe ich die Behandlung sehr gut vertragen. Ob das an meinem vergleichsweise jungen Alter für die Ersterkrankung, an meiner angepassten Ernährungsweise oder meiner persönlichen Konstitution lag, kann ich nicht sagen. Aber ich bin froh, die typischen Fragen bei den Untersuchungsterminen nach Übelkeit, Erbrechen, Unwohlsein, Fieber, Nachtschweiß usw. jedes Mal verneint haben zu können. Und das Wichtigste: Die Behandlung hat angeschlagen. Und damit zusammenhängend haben sich auch die Lymphknoten recht schnell auf ihr normales Maß zurückgebildet.

Dafür bin ich unendlich dankbar. Dankbar gegenüber der medizinischen Forschung, dankbar gegenüber den Ärzten, die für mich die richtige Behandlungsform gewählt haben, und dankbar dafür, dass sich außer Erschöpfung und Müdigkeit keine größeren Nebenwirkungen gezeigt haben. Denn so konnte ich trotz allem recht schnell wieder ein geregeltes Leben leben und blieb der Arbeitswelt erhalten.

Zum Ende der knapp einjährigen Behandlung stand noch eine genauere Untersuchung an: Zusätzlich zu einer umfangreichen Blutkontrolle erfolgte eine Knochenmarksuntersuchung. Damit sollte bestimmt werden, inwieweit die CLL noch nachweisbar war. Das Knochenmark entnahmen sie mir aus dem Beckenkamm. Und ich muss sagen: Obwohl die Ärztin dabei sehr bedacht und vorsichtig vorging, war diese Untersuchung das mit Abstand Unangenehmste meiner gesamten Behandlungszeit. Eine Betäubung war nur oberflächlich möglich, der Knochen musste durchbohrt werden, und die eigentliche Entnahme fühlte sich an, als ob jemand gleichzeitig von innen am Gehirn und an den Zehen zöge und mich aussagen wollte. Furchtbar. Und es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, bis die Stelle am Becken nicht mehr schmerzte. Aber, die Untersuchung brachte die gewünschte Gewissheit und lohnte sich daher auf jeden Fall: die CLL war und ist nicht mehr nachweisbar. Jetzt bleibt schlichtweg abzuwarten, ob und wann sie wieder auftritt.

Allerdings gibt es noch eine andere Seite: Während die Behandlung medizinisch ein Erfolg war, ich die Therapie gut vertragen und längst ins Arbeitsleben zurückgefunden habe – auf das, was so eine Diagnose und Behandlungsphase in mir auslösen würden, war ich nicht vorbereitet. Das habe ich ja schon in meinen früheren Beiträgen angedeutet (siehe dort). Auf so etwas ist man, glaube ich, nie wirklich vorbereitet. Und jeder muss für sich lernen, damit umzugehen.

Rückblickend, und durch die Corona-Pandemie verstärkt, fühlt sich die Zeit von der ersten Diagnose bis zum Ende der Behandlung im vergangenen Jahr noch immer surreal an. Fremd. Wie etwas, das nicht richtig zu mir und meinem bisherigen Leben gehört – weil es dieses Leben auch ziemlich durcheinandergewürfelt hat. Die CLL hat sowohl mein Leben als auch mich selbst, meine Sicht auf die Welt, mein Umfeld verändert. Und dieser Veränderungsprozess ist nach wie vor im Gange.

Aber: Die Behandlung hat angeschlagen, und seit nunmehr fast einem Jahr sind alle Werte in Ordnung. Die Therapie und v.a. das Durchhalten haben sich auf jeden Fall gelohnt. Trotz aller Hürden, anstrengender Phasen und durchlebter Tiefen. Denn was ist – im Vergleich zur neu gewonnenen Lebenszeit – schon ein Jahr?

19/02/22

CLL: 3 Buchstaben, eine Behandlung – Teil II/III

3.2 Infusionen (Obinutuzumab)

Den Kopf voll mit all jenen Dingen, die bei einer solchen Behandlung schiefgehen konnten, begann ich alles Mögliche zu regeln. Denn schließlich konnte die Behandlung nicht anschlagen, ich allergisch darauf reagieren, meine Nieren oder die Leber versagen uvm. So ordnete ich unter anderem alle Zugangsdaten meiner modernen Welt, regelte in der Agentur alles Notwendige und zog eine Kopie sämtlicher Texte und bisheriger Kompositionen auf eine externe Festplatte und gab sie Freundinnen. Für den Fall der Fälle …

Kurz vor Behandlungsbeginn bekam ich von diesen Freundinnen ein Freundschaftsarmband geschenkt. Mit einem Haizahn dran – damit ich dieser blöden Krankheit die Zähne zeigen konnte. Und mich nicht unterkriegen lasse. Ein kleines, aber tolles Geschenk, das mir viel Kraft gegeben und mich die gesamte Behandlungszeit über begleitet hat.

Mitte Juni 2020 war es so weit. Ich saß nervös in der Tagesklinik. Gleich morgens um 8:00 Uhr hatten sie mich einbestellt. Alles fremd. Alles neu. Fremde Menschen, fremde Gerüche, fremde Geräusche. Ein paar andere Patienten im Wartebereich, jeder mit sich selbst und seinen Gedanken beschäftigt. Nur wenige in Begleitung. Niemand so jung wie ich.

Und dann das erste Mal der typische Ablauf: Anmeldung. Warten. Arztgespräch mit Fragen zu meinem Gesundheitszustand und einer letzten Aufklärung. Erneut im Wartebereich Platz nehmen. Zugang gelegt bekommen. Wieder warten. Bekomme ich einen Kaffee? – Aber natürlich. Einfach nehmen. Weiter warten. Und noch länger warten.

Als ich schließlich aufgerufen wurde, folgte ich mit einem ziemlich mulmigen Gefühl der Schwester und trat an den großen Behandlungsstuhl heran. Er war vom Vorgänger noch in Sitzposition eingestellt. Um mich herum: ruhige Betriebsamkeit. Ab und an ein Piepsen der Apparate, wenn Medikamente zu tauschen waren. Der Raum? Hell und großzügig bemessen. Und mit Blick auf viel Grün und auf andere Gebäudeflügel des Klinikums. An den Wänden standen die Behandlungsstühle, in der Mitte ein paar Tische mit normalen Stühlen. Auf den Tischen standen Wasserflaschen, Gläser und eine Schüssel mit frischem Obst. Freundliche Schwestern halfen mir, mich einzurichten, zeigten mir die Steuerung, um den Behandlungsstuhl in eine angenehme Position zu bringen, und fragten, ob ich eine Decke wollte.

Dann startete die Behandlung. Sie gaben mir Medikamente zur Beruhigung und ein Antiallergikum intravenös. Zur Vorbeugung. Es folgte eine erste Infusion – Kochsalzlösung, zum ‚Spülen‘. Das dauerte. Und dann kam irgendwann der Beutel mit der Obinutuzumab-Lösung dran. Wie ich später erfuhr, wird die Lösung immer erst nach dem Arztgespräch am Vormittag bestellt und in der Apotheke des Klinikums vorbereitet. Deshalb dauert das im Schnitt eine Stunde, bevor sie verfügbar ist.

Die Vorbehandlung versetzte mich in einen dämmrigen Zustand. Ich beobachtete das Hin und Her der Schwestern, sah, wie Patienten kamen und gingen, döste manchmal weg. An Lesen war nicht zu denken. An meinen Geschichten weiterarbeiten? Auch nicht. Und was wirklich lästig wurde – und zwar bei allen Behandlungen: Die Menge an Flüssigkeit, die in mich hineinfloss, wollte auch wieder heraus. Hinzu kam die Aufregung. Also drängte es mich im Laufe der Stunden, die ich dort verbrachte, einige Male auf die Toilette. Im Grunde kein Drama. Doch musste jedes Mal die Infusion am Ständer mit, was schlichtweg umständlich war und mit den metallenen Rädern bei jeder Unebenheit auf dem Boden einen metallisch-nervenden Lärm machte. Zudem benötigte es viel Zeit, da ich mich auf jede Bewegung wirklich konzentrieren musste und meine Sinne nicht mehr ganz beieinanderhatte.

Bei der ersten Obinutuzumab-Infusion war es dann auch auf dem Weg zur Toilette, als ich bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich bekam einen immer stärkeren Druck auf der Brust. Die Atmung fiel mir zunehmend schwerer, und mein Kopf fühlte sich auf einmal an, als würde er glühen – mit hellroten Ohrenlampen an den Seiten.

Zurück an meinem Platz, rief ich nach der Schwester. Sie sah mir schon an, dass es mir nicht gut ging, und holte die diensthabende Ärztin. Ich hatte inzwischen ziemliche Schwierigkeiten, mich zu artikulieren und in meinem stärker werdenden Dämmerzustand mich auf irgendetwas zu konzentrieren oder überhaupt zu reagieren. Mir wurde heißer und heißer. Gleichzeitig zitterte ich. Jedes Wort fiel mir schwer. Ich bekam mit, dass immer mehr Ärztinnen und Ärzte um mich herum auftauchten. Sie untersuchten mich, doch auf ihre Fragen konnte ich nur schleppend und mit größter Anstrengung antworten.

Sie stoppten die Infusion und gaben mir andere Mittel. Dann brachten sie mich auf die hämatologische Station, wo ich zwei Tage blieb. – Ich hatte tatsächlich auf die erste Gabe reagiert. Das komme vor, erklärte mir ein Arzt am nächsten Tag. Weil der Körper so viel zu bewältigen habe und zu Beginn dadurch Schwierigkeiten bekäme, wenn zu viele Zellen in kurzer Zeit abgebaut werden. Deshalb wurde die erste Gabe grundsätzlich aufgeteilt: zuerst eine 100ml-Dosis und dann noch einmal eine 900ml-Dosis am Folgetag. Die restliche Menge der ersten Dosis bekam ich gegen Abend noch langsamer dosiert. Und da lief dann alles glatt.

Am nächsten Tag bekam ich die zweite Teilgabe der ersten Behandlung (die 900 ml). Auch zunächst sehr langsam dosiert. So dauerte es Stunden, bis die Infusion verabreicht war. Obwohl sie die Durchtropfgeschwindigkeit nach und nach erhöhten. Denn dieses Mal reagierte mein Körper nicht darauf und es ging alles gut. Auch die Blutwerte waren so weit in Ordnung und die Entzündungswerte blieben im Rahmen. Also konnte ich wieder nach Hause.

Nach diesem ersten Schrecken vertrug ich die folgenden Infusionen zum Glück alle problemlos. So, wie die Ärzte es beschrieben hatten. Ich war allerdings – gerade in der Anfangszeit mit den wöchentlichen Infusionen – in einem Dauer-Müdigkeits-Zustand (Fatigue-Syndrom). Es ist eine der möglichen Nebenwirkungen der Behandlung. Und diese Erfahrung war schon ziemlich krass. Ich spürte, dass mein Körper zu kämpfen hatte und sämtliche Energien dafür brauchte. Jeder Termin in der Klinik, jede Treppe, ja, selbst ein paar Schritte um den Häuserblock bedeuteten auf einmal g,eine riesige Herausforderung, Kraftanstrengung, benötigten meine volle Konzentration – und viel Zeit.

Die extreme Müdigkeit dauerte einige Wochen. Auch zu den Kontrollterminen in der Hämatologischen Ambulanz, wo die Auswirkungen der Medikation engmaschig überprüft wurden, kam ich benebelt. An manchen Tagen hatte ich Angst, nie mehr aus diesem Zustand herauszukommen. Ob ich jemals wieder würde klar denken können – und Geschichten schreiben?

Nachdem der Turnus bei den Infusionen auf monatliche Termine gewechselt hatte, ging es deutlich besser. Der Kopf blieb die meisten Tage recht klar. Nur die zwei Tage nach der Infusion blieben schwierig. Die Behandlung packte meinen Kopf voll dämmender Watte und ließ mich ziemlich neben mir stehen. Pünktlich gegen Abend des zweiten Tages nach der Infusion löste sich der Dämmerzustand jedoch wieder auf und der Spuk war vorüber. Jedes Mal. Also galt nur eines: Durchhalten, der Müdigkeit nachgeben – und vor allem mit sich selbst geduldig sein.

Die Abläufe, Menschen und Gesichter in der Tagesklinik wurden mir von Mal zu Mal vertrauter. Für die Wartezeiten nahm ich mir Lektüren mit, die mir in meiner Situation weiterhalfen und mich daran hinderten, zu verzweifeln (dazu in späteren Blogbeiträgen mehr). Aber wirklich nur für die Warterei, denn danach war an Lesen nicht mehr zu denken. Nur noch an schlafen, schlafen, schlafen.

Ich machte aus der Not eine Tugend und ritualisierte meine Infusionstermine. Das half mir dabei, das alles viel entspannter anzugehen. Ich meldete mich an, suchte mir im Wartebereich einen Platz am Fenster, trank erst einmal einen Kaffee und nahm mir auch schon mal eine Flasche Wasser. Dann las ich, bis ich an der Reihe war. Die meiste Zeit während der Behandlung ruhte oder schlief ich dann. Was sollte ich auch anderes machen? Ich wurde zwischendurch manchmal wach, wenn die Schwestern Infusionen wechselten. Oder wenn es etwas zu Essen gab. Aber ansonsten: dösen und schlafen. Dadurch kam mir die Zeit auch nicht mehr so lange vor. Und das eine oder andere Mal mussten sie mich tatsächlich wecken, als ich fertig war und wieder nachhause durfte. Dann brauchte ich allerdings etwas, bis ich mich sortiert hatte und tatsächlich gehen konnte.

In diesem Zusammenhang noch ein Tipp: Taxiunternehmen für Krankenfahrten vorab buchen.

Da ich nicht immer jemanden hatte, der mich in die Klinik bringen oder abholen konnte, brauchte ich ein Taxi. Deshalb hatte ich mir im Vorfeld ein Unternehmen für die Krankenfahrten rausgesucht, denen ich meine Behandlungs- und Kontrolltermine nannte. Wir vereinbarten, dass ich mich melden sollte, sobald meine Behandlung fertig war. Anders ließ sich das nicht regeln. Aber es klappte immer prima. Und in meinem Zustand war es mir eh egal, ob es nun 5, 10 oder 20 Minuten dauerte, bis mich jemand abholte. Darauf kam es an den Behandlungstagen auch nicht mehr an. Ich hatte ja nichts anderes vor – und eh kein funktionierendes Zeitgefühl mehr.

Mit den Infusionen ging am Ende alles gut aus. Eine weitere Stufe der Behandlung begann mit den Venetoclax-Tabletten – doch davon im nächsten Beitrag mehr.

6/02/22

CLL: 3 Buchstaben, eine Behandlung – Teil I/III

3.1 CLL 14-Studie

Im Frühjahr 2020, ungefähr ein Jahr nach der Diagnose, kam dann der Moment, den ich so lange gefürchtet hatte: Die Ärztin riet mir aufgrund meiner Blutwerte doch zum baldigen Beginn einer Behandlung. Am besten innerhalb der nächsten Monate, bevor die Werte sich weiter verschlechterten und kritische Symptome hinzukamen.

Es war also so weit. Und ich bekam Panik. Die umgestellte Ernährung hatte mir weniger Zeit geschenkt als erhofft – wenn sie überhaupt einen direkten Einfluss auf das Fortschreiten der CLL hatte (aber das ist ein Thema für sich). Immerhin: Es waren keine zusätzlichen Beschwerden hinzugekommen oder Infektionen aufgetreten.

In weiteren Terminen ging es um die mögliche Behandlung, die damit verbundenen Risiken und den generellen Ablauf. Und plötzlich war ich u.a. mit der Frage konfrontiert, ob meine Familienplanung schon abgeschlossen sei. Denn eine Behandlung konnte sich schädigend auf das Erbgut auswirken… Schwierig. Und allein das dauerte Wochen, bis ich eine Entscheidung hatte treffen können.

Gleichzeitig erfuhr ich, dass es inzwischen eine Alternative zu der im Vorjahr noch präferierten Therapieform gab: eine neue Kombinationstherapie gemäß der sog. »CLL-14 Studie«. Ich bekam erklärt, dass es mit der Kombination aus Obinutuzumab (als Infusion) und Venetoclax (als Tabletten) jetzt eine weitere chemotherapie-freie Behandlung für die Erstlinientherapie der CLL gab. »Erstlinientherapie« bedeutet, dass der Patient das erste Mal eine Behandlung zu dieser Erkrankung erfährt. Die Hämatologen im Klinikum schlugen mir diese Behandlung u.a. auch vor, weil sie auf 12 Zyklen à 28 Tage (also knapp ein Jahr) begrenzt ist und ich ja wieder ein möglichst ‚normales‘ Leben führen können sollte. Das kam mir natürlich entgegen. Zudem stand ich ja noch voll im Berufsleben. Mit einem Jahr Behandlungsdauer konnte ich mich eher anfreunden als mit der Vorstellung, täglich und für den Rest meines Lebens irgendwelche Pillen schlucken zu müssen.

Der schlimmste Besprechungstermin war allerdings der, als mich die Ärztin über die Risiken der Behandlung aufklärte. Und das ziemlich ausführlich. Das musste sie. Aber wollte ich das alles wissen? Ich hatte ja extra aufgehört, im Internet zu recherchieren. Gerne hätte ich darauf verzichtet, aber es half nichts. Danach hatte ich erst einmal keine Lust mehr auf irgendeine Behandlung. Und brauchte noch einmal etwas Zeit.

Der Behandlungsplan gemäß CLL-14-Studie sieht vor, zunächst in 6 Zyklen (à 28 Tage) Obinutuzumab zu verabreichen. Im ersten Zyklus wöchentlich, und dann, ab dem 2. Zyklus, nur noch ein Mal pro ‘Monat’. Zusätzlich beginnt in der letzten Woche von Zyklus 1 (Tag 22-28) die wochenweise Aufdosierung des BCL-2-Inhibitors Venetoclax bis zur vollen Dosierung mit 400mg pro Tag in der fünften Woche. Diese Dosierung gilt dann weiter von Zyklus 3 bis Ende Zyklus 12. Ich bekam also erst einmal Infusionen und musste dann später und bis zum Ende der Behandlungszeit Tabletten einnehmen. Die Infusionsgabe konnten ambulant und unter ärztlicher Aufsicht gegeben werden, die Tabletten konnte ich zuhause nehmen.

Wo ich die Behandlung machen lassen wollte, überließen sie mir. Das konnte entweder in der hämatologischen Tagesklinik erfolgen oder in einer entsprechenden Facharzt-Praxis.

Und wieder eine Entscheidung. – Bei der übrigens einige aus dem Freundes- und Bekanntenkreis auf einmal meinten, mitreden und Ratschläge geben zu müssen: von »geh bloß nicht in die Uniklinik. Da bist du nur eine Nummer unter vielen«, »ach, da hat sowieso keiner Zeit, sich richtig mit dir zu beschäftigen« und »die Tagesklinik ist furchtbar: zu viele Menschen, viel zu voll und zu unruhig« bis hin zu »geh auf jeden Fall in die Tagesklinik. Wo sonst hast du Zugang zum aktuellen Forschungsstand?«
Verwirrend.

Meine innere Stimme sagte mir sofort: Wenn überhaupt Behandlung, dann in der Tagesklinik. Zum einen vertraute ich darauf, dass sich die entsprechenden Ärzte untereinander abstimmten und austauschten. Zum anderen finde ich Menschen und ein geschäftiges Treiben um mich herum eher inspirierend als nervig. Nicht umsonst sind schon auf so mancher Zug- und Straßenbahnfahrt Geschichten entstanden. Auch meinen großen Fantasy-Roman habe ich über lange Jahre hinweg immer wieder beim Pendeln weitergeschrieben.

Durch das Gerede der anderen verunsichert, beschloss ich dennoch, mir eine Facharzt-Praxis wenigstens mal anzusehen. Am Empfang ging es zu, wie in einem Taubenschlag. Und auch das mehrteilige Wartezimmer war voller als erwartet. Aber das konnte auch ein gutes Zeichen sein. Der vergleichsweise junge Arzt wirkte kompetent, war ruhig und freundlich und bestätigte nach eingehender Untersuchung die bisherigen Aussagen der Ärzte. Und natürlich könne ich die Behandlung auch bei ihnen ambulant durchführen lassen. Ich sollte es mir überlegen und mich dann wieder melden.

Die Praxis war hell und modern, der Arzt schien kompetent … Warum also nicht? Ich wollte am Empfang noch fragen, wann ich mich spätestens melden sollte oder wie viel Vorlauf sie bräuchten. Aber ich musste anstehen und warten. Denn die Sprechstundenhilfen waren eher mit sich und ihren Freizeitplänen beschäftig als mit uns. Und sie behandelten einen alten Patienten recht harsch und ungeduldig, der, halb auf seinen Rollator gestützt, kaum seine notwendigen Unterlagen herausgekramt bekam.

Damit war die Sache für mich erledigt. Das war kein Ort für mich.

Ich denke, wo sich jemand behandeln lassen möchte, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich entschied mich für die Behandlung in der hämatologischen Tagesklinik des Uniklinikums. Und nachträglich betrachtet, war das genau die richtige Entscheidung.