3.1 CLL 14-Studie
Im Frühjahr 2020, ungefähr ein Jahr nach der Diagnose, kam dann der Moment, den ich so lange gefürchtet hatte: Die Ärztin riet mir aufgrund meiner Blutwerte doch zum baldigen Beginn einer Behandlung. Am besten innerhalb der nächsten Monate, bevor die Werte sich weiter verschlechterten und kritische Symptome hinzukamen.
Es war also so weit. Und ich bekam Panik. Die umgestellte Ernährung hatte mir weniger Zeit geschenkt als erhofft – wenn sie überhaupt einen direkten Einfluss auf das Fortschreiten der CLL hatte (aber das ist ein Thema für sich). Immerhin: Es waren keine zusätzlichen Beschwerden hinzugekommen oder Infektionen aufgetreten.
In weiteren Terminen ging es um die mögliche Behandlung, die damit verbundenen Risiken und den generellen Ablauf. Und plötzlich war ich u.a. mit der Frage konfrontiert, ob meine Familienplanung schon abgeschlossen sei. Denn eine Behandlung konnte sich schädigend auf das Erbgut auswirken… Schwierig. Und allein das dauerte Wochen, bis ich eine Entscheidung hatte treffen können.
Gleichzeitig erfuhr ich, dass es inzwischen eine Alternative zu der im Vorjahr noch präferierten Therapieform gab: eine neue Kombinationstherapie gemäß der sog. »CLL-14 Studie«. Ich bekam erklärt, dass es mit der Kombination aus Obinutuzumab (als Infusion) und Venetoclax (als Tabletten) jetzt eine weitere chemotherapie-freie Behandlung für die Erstlinientherapie der CLL gab. »Erstlinientherapie« bedeutet, dass der Patient das erste Mal eine Behandlung zu dieser Erkrankung erfährt. Die Hämatologen im Klinikum schlugen mir diese Behandlung u.a. auch vor, weil sie auf 12 Zyklen à 28 Tage (also knapp ein Jahr) begrenzt ist und ich ja wieder ein möglichst ‚normales‘ Leben führen können sollte. Das kam mir natürlich entgegen. Zudem stand ich ja noch voll im Berufsleben. Mit einem Jahr Behandlungsdauer konnte ich mich eher anfreunden als mit der Vorstellung, täglich und für den Rest meines Lebens irgendwelche Pillen schlucken zu müssen.
Der schlimmste Besprechungstermin war allerdings der, als mich die Ärztin über die Risiken der Behandlung aufklärte. Und das ziemlich ausführlich. Das musste sie. Aber wollte ich das alles wissen? Ich hatte ja extra aufgehört, im Internet zu recherchieren. Gerne hätte ich darauf verzichtet, aber es half nichts. Danach hatte ich erst einmal keine Lust mehr auf irgendeine Behandlung. Und brauchte noch einmal etwas Zeit.
Der Behandlungsplan gemäß CLL-14-Studie sieht vor, zunächst in 6 Zyklen (à 28 Tage) Obinutuzumab zu verabreichen. Im ersten Zyklus wöchentlich, und dann, ab dem 2. Zyklus, nur noch ein Mal pro ‘Monat’. Zusätzlich beginnt in der letzten Woche von Zyklus 1 (Tag 22-28) die wochenweise Aufdosierung des BCL-2-Inhibitors Venetoclax bis zur vollen Dosierung mit 400mg pro Tag in der fünften Woche. Diese Dosierung gilt dann weiter von Zyklus 3 bis Ende Zyklus 12. Ich bekam also erst einmal Infusionen und musste dann später und bis zum Ende der Behandlungszeit Tabletten einnehmen. Die Infusionsgabe konnten ambulant und unter ärztlicher Aufsicht gegeben werden, die Tabletten konnte ich zuhause nehmen.
Wo ich die Behandlung machen lassen wollte, überließen sie mir. Das konnte entweder in der hämatologischen Tagesklinik erfolgen oder in einer entsprechenden Facharzt-Praxis.
Und wieder eine Entscheidung. – Bei der übrigens einige aus dem Freundes- und Bekanntenkreis auf einmal meinten, mitreden und Ratschläge geben zu müssen: von »geh bloß nicht in die Uniklinik. Da bist du nur eine Nummer unter vielen«, »ach, da hat sowieso keiner Zeit, sich richtig mit dir zu beschäftigen« und »die Tagesklinik ist furchtbar: zu viele Menschen, viel zu voll und zu unruhig« bis hin zu »geh auf jeden Fall in die Tagesklinik. Wo sonst hast du Zugang zum aktuellen Forschungsstand?«
Verwirrend.
Meine innere Stimme sagte mir sofort: Wenn überhaupt Behandlung, dann in der Tagesklinik. Zum einen vertraute ich darauf, dass sich die entsprechenden Ärzte untereinander abstimmten und austauschten. Zum anderen finde ich Menschen und ein geschäftiges Treiben um mich herum eher inspirierend als nervig. Nicht umsonst sind schon auf so mancher Zug- und Straßenbahnfahrt Geschichten entstanden. Auch meinen großen Fantasy-Roman habe ich über lange Jahre hinweg immer wieder beim Pendeln weitergeschrieben.
Durch das Gerede der anderen verunsichert, beschloss ich dennoch, mir eine Facharzt-Praxis wenigstens mal anzusehen. Am Empfang ging es zu, wie in einem Taubenschlag. Und auch das mehrteilige Wartezimmer war voller als erwartet. Aber das konnte auch ein gutes Zeichen sein. Der vergleichsweise junge Arzt wirkte kompetent, war ruhig und freundlich und bestätigte nach eingehender Untersuchung die bisherigen Aussagen der Ärzte. Und natürlich könne ich die Behandlung auch bei ihnen ambulant durchführen lassen. Ich sollte es mir überlegen und mich dann wieder melden.
Die Praxis war hell und modern, der Arzt schien kompetent … Warum also nicht? Ich wollte am Empfang noch fragen, wann ich mich spätestens melden sollte oder wie viel Vorlauf sie bräuchten. Aber ich musste anstehen und warten. Denn die Sprechstundenhilfen waren eher mit sich und ihren Freizeitplänen beschäftig als mit uns. Und sie behandelten einen alten Patienten recht harsch und ungeduldig, der, halb auf seinen Rollator gestützt, kaum seine notwendigen Unterlagen herausgekramt bekam.
Damit war die Sache für mich erledigt. Das war kein Ort für mich.
Ich denke, wo sich jemand behandeln lassen möchte, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich entschied mich für die Behandlung in der hämatologischen Tagesklinik des Uniklinikums. Und nachträglich betrachtet, war das genau die richtige Entscheidung.